Selbst- und Ungewissheiten der neuen Linkspartei
"Ramelow erwägt Austritt aus der Linken“ (t-online) – das kann doch nicht wahr sein! Und ist es auch nicht. Ich greife sein Diskussionsangebot auf und mache Vorschläge für eine linke Streitkultur.
“Bodo Ramelow denkt über Austritt aus der Linkspartei nach“ (n-tv); „Ramelow erwägt Austritt aus der Linken“ (t-online) – das kann doch alles nicht wahr sein! Und ist es ja auch nicht. Bodo Ramelow hat in seinem Online-Tagebuch auf die Entwicklung der neuen Linkspartei geblickt – besorgt und grübelnd. Er hat Fragen aufgeworfen, über die diskutiert werden muss.
Ich greife das Diskussionsangebot auf und erläutere, warum eine kritische Analyse linker Regierungspolitik in Thüringen selbstverständlich ist. In dem Zusammenhang beschreibe ich jedoch die Notwendigkeit einer konstruktiven Streitkultur in der neuen Linkspartei und weshalb sich 2026 in Schwerin, Mainz, Magdeburg und Berlin völlig unterschiedliche Herausforderungen möglicher linker Regierungspolitik stellen.
Die Linke in Thüringen hat einen turbulenten Landesparteitag hinter sich. Entgegen dem Wunsch der bisherigen Landesvorsitzenden – und wohl auch der Erwartung mancher Delegierter – scheiterten Christian Schaft und Ulrike Grosse-Röthig mit dem Vorhaben, die Trennung von Amt und Mandat im Vorsitz aufzuheben. Der Parteitag stimmte mehrheitlich für die Beibehaltung der bestehenden Regelung.
Solche Situationen entstehen bei Parteitagen nicht selten – nicht nur bei linken –, wenn Delegierte davon ausgehen, die anderen würden einem Antrag oder einer Kandidatur zustimmen, und sich im Nachhinein alle über die schlechte Stimmung wundern. In Ilmenau wurden mit Katja Maurer und Ralf Plötner zwei erfahrene Genoss:innen zu neuen Vorsitzenden gewählt, beide mit Regierungserfahrung in der rot-rot-grünen Zeit. Einen radikalen Kurswechsel mit ihnen zu erwarten, entspricht aus meiner Sicht nicht der Realität. Das gilt ebenso für den gesamten Landesvorstand, dessen erfolgreiche Arbeit in den vergangenen 15 Jahren davon geprägt war, dass es – anders als in anderen linken Strukturen – weder Strömungs- noch destruktive Regionalkonflikte gab.
Seit den 1990er Jahren gab es in Thüringen rechnerische rot-rote bzw. rot-rot-grüne Mehrheiten. Erstmals 2009 versuchte man, daraus eine Gestaltungsmehrheit zu formen – damals vergeblich, fünf Jahre später erfolgreich. Diese Ausgangslage prägte die Thüringer Linke lange Zeit. Der Verlust dieser progressiven Mehrheit hat Folgen: Die AfD ist inzwischen stärkste Kraft im Freistaat. Das zwingt auch in Thüringen dazu, bislang undenkbare Konstellationen diesseits der Brandmauer nicht auszuschließen – womöglich einzugehen.
Die Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner wird bei ntv mit den Worten zitiert: „Bodo Ramelow und anderen Parteimitgliedern, die in Regierung Verantwortung übernommen haben, gebührt Respekt. Und doch gibt es zu Recht auch ein kritisches Verhältnis zum Regieren, das gerade in der Partei aufgearbeitet wird. Diese Debatte ist richtig, sie läuft in Thüringen wie auch in der Gesamtpartei.“
Diese Aussage lässt sich einordnen in das altvertraute Framing – Fundis gegen Realos. Wie stets folgt dann die journalistische Frage: „Ist Die Linke (noch) regierungsfähig?“, während andere Parteien Symbolhandlungen einfordern. Berechenbar – und überflüssig.
Viel spricht dafür, dass Ines Schwerdtner – im Wissen um die Ambivalenzen linker Regierungsbeteiligung – jenen, die Verantwortung übernommen haben, tatsächlich Respekt zollt. Ich habe keinen Anlass, etwas anderes anzunehmen. Und unterstelle ihr deshalb das Interesse an einer vorurteilsfreien Analyse der bisherigen Regierungspraxis – um daraus Schlussfolgerungen für unsere künftige Strategie und Taktik zu ziehen. Selbst wenn das nicht ihre Intention wäre, hielte ich diese Herangehensweise für klug und angemessen.
Praktische Methode der Kritik
Die zehnjährige rot-rot-grüne Regierungszeit kritisch aufzuarbeiten, wie es der Thüringer Landesparteitag beschlossen hat, ist aus meiner Sicht nachvollziehbar und richtig. Komplexe Prozesse – ob im politischen Alltag, im Operationssaal oder in der Katastrophenhilfe – sollten regelmäßig reflektiert werden. Was in Medizin und Einsatzorganisationen selbstverständlich ist, gilt in der Politik bislang kaum. Es wäre an der Zeit, das zu ändern.
Dass die Analyse kritisch erfolgen soll, halte ich für selbstverständlich. Eine affirmativ-unhinterfragte Rückschau wäre kaum erkenntnisreich – nur aus einer kritischen Perspektive lassen sich tragfähige Schlüsse ziehen. Auch wir, die in dieser Regierung Verantwortung trugen, mussten feststellen, dass manche Ziele unerreicht blieben. Einige Vorhaben gingen nicht weit genug, an anderen Stellen wären entschiedenere Schritte nötig gewesen. Und doch bleibt für mich klar: Ohne unsere Arbeit stünde Thüringen heute schlechter da, die Zivilgesellschaft wäre verletzlicher.
Ein Blick in Band 4 des Kritischen Wörterbuchs des Marxismus erinnert daran, dass Kritik mehr ist als Analyse: Sie ist eine Methode, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Sie zielt darauf, ökonomische, politische und ideologische Strukturen in ihren Voraussetzungen, Widersprüchen und Machtfunktionen zu durchdringen. Marx verstand Kritik als „Waffe der Theorie“, die nicht nur interpretiert, sondern verändert.
Gleichzeitig warnten Marx und Engels vor einer selbstbezüglichen „Kritischen Kritik“, wie sie bei Hegelschülern wie Bruno Bauer zu beobachten war – eine Kritik, die sich im eigenen Reflexionsgestus erschöpft. Diese Gefahr droht auch in Teilen der gegenwärtigen Debatte: Wenn Kritik an linker Regierungspolitik vor allem Haltungsritual ist, verliert sie ihren transformativen Anspruch. Dann wird Kritik Selbstzweck – und kein Mittel der Veränderung.
Die neue Linke: Who we are and what we want?
Wird Die Linke in Thüringen künftig eine andere sein als bisher? Ja – und sie ist es bereits. Wie in allen Landes-, Kreis- und Ortsverbänden hat die Verdopplung der Mitgliedszahlen zu einer faktischen Neugründung von unten geführt. Die neue Linke unterscheidet sich demografisch und strukturell deutlich von der Partei vor einem Jahr – teils sogar gegenüber dem Stand vor sechs Monaten. In meinem Kreisverband ist die Mitgliederzahl um ein Drittel gestiegen. In anderen Gliederungen stellen die Neumitglieder inzwischen die Mehrheit; die alte Linkspartei ist dort zur Minderheit geworden.
Vor diesem Hintergrund habe ich das Bild geprägt: Die neue Linke ist ein Start-up mit einer langen Traditionslinie. Angesichts der Dynamik dieser Entwicklung wissen wir bislang zu wenig darüber, wer wir als Partei derzeit überhaupt sind. Erste empirische Untersuchungen laufen, neue Studien und Publikationen werden folgen und neue Einsichten ermöglichen.
Der bis 2027 geplante Programmprozess ist deshalb sinnvoll. Er ist nicht nur inhaltliche Klärung, sondern auch ein Prozess politischer Bildung und Verständigung – ein Häutungsprozess für eine Partei, die gerade 18 Jahre alt geworden ist. Wer sich im innerparteilichen Diskurs darauf beruft, „die Mitglieder“ im Rücken zu haben, bewegt sich dabei oft auf dünnem Eis.
Vor diesem Hintergrund halte ich auch die bei ntv zitierte Aussage von Ines Schwerdtner – Ramelows Beitrag sei „so ein bisschen wie ein Brief an die Partei von vor einem halben Jahr oder Jahr vielleicht, aber eigentlich nicht die aktuelle Partei“ – für erklärungsbedürftig. Ihre Tragfähigkeit ist begrenzt, wenn man bedenkt, wie stark sich die Zusammensetzung der Partei derzeit im Wandel befindet – und wie unklar dabei noch ist, wie sich die neue Partei programmatisch positionieren wird.
Wie wir wieder miteinander zu streiten lernen (müssen)
Bedeutsamer als das Messen der Dicke der politischen Eisfläche, auf der wir uns bewegen, ist etwas anderes: Parallel zu der vorstehend beschriebenen Entwicklung diskutiert das politische StartUp weiterhin kontrovers über diejenigen Themen, die in der langen Traditionslinie der progressiven Bewegungen der Arbeiter:innen, Feminist:innen, Ökosozialist:innen etc. bereits für Widerspruch sorgten: das Spannungsverhältnis von Reform und Revolution, die richtige Friedens- und Abrüstungspolitik, Antisemitismus u.a.m.
Die Arbeiter:innenbewegung hat eine reiche und produktive Tradition des Streits – sowohl theoretisch als auch praktisch. Von Anfang an war sie kein monolithischer Block, sondern geprägt von intensiven Auseinandersetzungen über Strategie, Ziele und gesellschaftliche Perspektiven. Diese Streitkultur war oft Ausdruck lebendiger demokratischer Praxis, Klassenbewusstseinsbildung und intellektueller Offenheit.
Die alte Linkspartei hatte – spätestens im Zuge des Göttinger Parteitag 2012 – ihre Fähigkeit verloren, kontroverse Positionen konstruktiv zu diskutieren. Sie hatte verlernt, das Spannungsverhältnis widerstreitender Auffassungen als einen Lernprozess zu verstehen, der am Ende die Partei und ihre Mitglieder insgesamt klüger werden lässt. Dies setzt eine Kultur des Streits und des Argumentierens voraus.
Der zermürbende Dauerkonflikt mit Sahra Wagenknecht und anderen Akteur:innen führte dazu, dass innerhalb der alten Linkspartei offene Debatten kaum mehr möglich waren. Dies geschah in einem gesellschaftlichen Klima, das ohnehin durch eine abnehmende Konfliktfähigkeit geprägt ist – verstärkt durch die aggressiv-polare Kommunikationskultur sozialer Netzwerke, in der verbal eher zugeschlagen als argumentiert wird.
Soziale Netzwerke haben eine Kommunikationskultur etabliert, die Ambivalenz und Differenzierung kaum belohnt. Stattdessen fördern sie Zuspitzung, Polarisierung und emotionale Reizsetzungen – denn gerade diese Inhalte erzeugen Reichweite, Interaktionen und damit Werbeeinnahmen. In den algorithmisch gesteuerten Logiken der Plattformen „performen“ einfache Feindbilder, moralische Empörung und klare Lagerzuordnungen deutlich besser als differenzierte Argumentationen. Wer zögert, abwägt oder Grautöne zulässt, wird kaum wahrgenommen – geschweige denn „geteilt“. Diese Dynamik verstärkt nicht nur gesellschaftliche Spaltung, sondern unterminiert auch die Fähigkeit politischer Organisationen, innere Widersprüche produktiv zu bearbeiten.
Statt produktiver Auseinandersetzungen dominierten in der alten Linkspartei fragile Formelkompromisse, die Gegensätze rhetorisch überbrückten, aber nicht auflösten. Wo das nicht mehr funktionierte, zog sich eine Seite verbittert zurück – meist ohne Klärung oder Verständigung.
Diese Dynamik ist nicht neu, sondern knüpft an eine tiefsitzende historische Pfadabhängigkeit kommunistischer Parteien an: das Streben nach politischer Reinheit. Diese konnte häufig nur durch Spaltungen, Abgrenzungen oder formale Ausschlüsse autoritär durchgesetzt werden.
Die politische Kultur der Linken leidet darunter bis heute – und verhindert oft jene Vielfalt im Dissens, die für eine lebendige demokratische Bewegung notwendig wäre.
Deshalb muss die neue Linkspartei alles dafür tun, diese Fehler nicht nur nicht zu wiederholen, sondern in ihrer politischen DNA die Überzeugung zu verankern, dass Widersprüche in den eigenen Reihen möglichst dialektisch aufzulösen sind. Diese politische DNA würde wiederum auf der Überzeugung beruhen, dass die Diversität, für die wir uns gesellschaftspolitisch einsetzen, wir auch in unseren eigenen Reihen aushalten können und müssen – weil wir am Ende alle davon profitieren.
Anknüpfen an Erkenntnisse zur linken Regierungspolitik beim Blick auf 2026
Die Literatur zu den Debatten über das Pro und Contra linker Regierungspolitik ist umfangreich. Sowohl die historische Literatur im Umfeld der Bernstein-Luxemburg-Kontroverse (Revisionismusstreit) als auch über die Strategie der KPD um 1923 oder über die Strategie der frisch gegründeten grünen Partei.
Auch über die Regierungspolitik der PDS bzw. Linkspartei ist intensiv in der Vergangenheit debattiert worden. Es wäre verdienstvoll, würde die Rosa-Luxemburg-Stiftung die historischen und zeitgenössischen Beiträge in digitaler Form bereitstellen und dadurch zur politischen Bildung ebenso wie zur sachlichen und voraussetzenden Debatte beitragen.
Einige der Beiträge habe ich selbst verfasst, wie z.B. gemeinsam mit Harald Wolf in „Arbeitsteilung für den Knotenlöser“ oder rezensiert, wie z.B. im Beitrag „Nicht bloß dieses grobkörnige Entweder-oder“. Andere, oft stark abweichende Überlegungen, formulierte u.a. Thiess Gleiss, wie z.B. in „Die Linke und das Regieren“. Und dies sind nur Beispielpunkte einer reichhaltigen und respektvoll geführten Debatte.
Die Analyse der rot-rot-grünen Regierungspolitik in Thüringen kann und sollte aufsetzen auf den bereits vorliegenden Publikationen, zu denen u.a. gehören: „Mit LINKS regieren?“ hrsgg. von Susanne Hennig-Wellsow (2015), „Neue Wege gehen“ (2023) hrsgg. von mir aber auch z.B. die sehr kritische und auf dem Bonapartismus-Gleichnis beruhende Betrachtung von Klaus Dörre aus 2019.
Das Buch »Rot-Rot in Berlin. 2002 bis 2011: eine (selbst-)kritische Bilanz« ist eine umfassende Analyse eines Jahrzehnts rot-roter Regierung. (Selbst-)Kritisch geht Harald Wolf darin mit den polit-ökonomischen Rahmenbedingungen des Entstehens und dem Wirken des rot-roten Bündnisses ins Gericht und macht zugleich deutlich, welche Lernerfahrungen Die Linke gemacht hat.
Die Klaviatur radikalreformerischer oder revolutionär reformistischer Gestaltungspolitik hat viele Tasten. Und eine überzeugende Melodie entsteht nicht, wenn ein Teil der Tastatur einfach abgeklebt wird. Die Realität ist konkret und hält sich selten an programmatische Leitsätze.
So wird Die Linke bei den Wahlen 2026 in Schwerin um die Fortsetzung der rot-roten Regierung gegen die AfD kämpfen und in Rheinland-Pfalz aus heutiger Sicht vor der Frage stehen, ob sie nicht nur erstmals in den Landtag einzieht, sondern sich an ihrer Existenz entscheidet, ob in Mainz eine Mitte-Links-Regierung oder die CDU regieren wird.
In Sachsen-Anhalt werden nach der Landtagswahl möglicherweise Konstellationen unter Einschluss der Linken nötig sein, um den ersten Ministerpräsidenten der AfD zu verhindern.
In Berlin würde eine linksgeführte Stadtregierung die seit 2023 gestoppte Umsetzung des Volksbegehrens zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co. wieder aufnehmen.
Vier Länder – vier völlig unterschiedliche Bedingungen. Aber eine Partei, die sich in einem Punkt einig ist: Alle wollen regieren. Wir wollen verändern.